Nach dem Charaktertest in Mönchengladbach fordert Kurz eine weitere Steigerung in den verbleibenden vier Spielen.
Im Gesicht von Marco Kurz wuchern seit Tagen die Bartstoppeln. Eigentlich ist das nichts Besonderes, in anderen Sportarten sind in der Saisonendphase häufig solche wilden Gewächse zu bewundern ("Playoff-Bart"), doch das dichte Gestrüpp des Löwen-Trainers hat nichts mit Aberglaube zu tun, sondern mit Zeitmangel, wie er betont. "Die andere Sache", erinnert er an ein Gelübde im Abstiegsjahr 2004, "hatten wir ja schon mal, und am Schluss hat man gesehen, wer den Bart noch stehen hatte." An den Vorsatz, sich erst im Rettungsfalle wieder zu rasieren, hielten sich damals nur wenige. Die meisten aus dem Team des eitlen Falko Götz stiegen mit kahlem Kinn ab. Mal abgesehen davon, dass ein solcher Schwur bei der aktuellen Mannschaft schon daran scheitern würde, dass bei der Hälfte der Spieler nur einen spätpubertärer Flaum zustande käme, wäre eine solch haarige Zusammenhaltsbekundung auch gar nicht nötig. Moral und Einstellung des Jahrgangs 2008 stimmen nämlich, wie beim 2:2 in Mönchengladbach erneut zu sehen war.Obwohl die junge Kurz-Elf bis vor kurzem von einer veritablen Krise heimgesucht wurde (neun Spiele in Folge ohne Sieg) und eine Restverunsicherung in den Köpfe mehr als verständlich wäre, lieferte sie am Sonntag einen beeindruckenden Charaktertest ab: Die Löwen kamen trotz eines 0:1-Rückstandes zurück, sie schenkten dem heimstarken Zweitligaprimus durch di Salvo und Göktan zwei Gegentore ein (nur Köln war dies in dieser Saison gelungen), nicht einmal vom berechtigten Foulelfmeter kurz nach Wiederanpfiff ließen sie sich beeindrucken. Zufrieden stellte Kurz fest: "Wir haben die Talsohle ein weiteres Stück durchschritten." Seine Mannschaft lebt. Sie habe, so der 1860-Coach, "ein kleines Ausrufezeichen gesetzt".Trotzdem: Als endgültig gerettet sieht er sein Team noch nicht an. Gäbe es einen Nichtabstiegsschwur wie vor vier Jahren, würde Kurz den Bart sicherheitshalber stehen lassen, denn: "Ganz sicher kann man sich mit unserer Punktzahl noch nicht sein. Erst wenn eine 4 vorne steht, würde ich sagen: geschafft!" Vier Spieltage vor Schluss steht sein Team bei 39 Punkten, und Kurz scheint sich bestens in der Zweitliga-Historie auszukennen. Denn: In den letzten zehn Jahren stiegen fünf Mannschaften ab, die am Ende 39 Punkte oder mehr Punkte auf dem Konto hatten (Leipzig 1998, Kickers Stuttgart 2000, Lübeck 2004, Trier 2005, Dresden 2006). Ein bisschen müssen sich die Löwen also noch anstrengen.Wahlweise auch: extrem anstrengen. Schließlich gibt es ja ein offizielles Saisonziel, das mal so formuliert wurde: Besser abschneiden als letzte Saison. Auf 48 Punkte kamen die Löwen letztes Jahr in der Endabrechnung, und wenn die Verantwortlichen weiter auf eine Entwicklung verweisen wollen, darf in den verbleibenden vier Begegnungen nicht viel schief gehen. Gegen Freiburg, Paderborn, Osnabrück und Aue müssen dann mindestens drei Siege her.Gegen Freiburg am Freitag will Kurz die Leistung von Gladbach bestätigt sehen. Einiges, findet er, könne sogar noch optimiert werden: Die Abstimmung in der neuen Viererkette zum Beispiel, die ihm am Sonntag "nur mit Abstrichen" gefiel - das Defensivverhalten generell. "Nicht nachlassen jetzt", fordert Kurz, "sondern zusehen, dass wir noch stabiler werden."Ein bisschen Laissez-faire war gestern dennoch erlaubt. Nach der Regenerationseinheit mit den neuen Mountainbikes trug Philipp Tschauner drei Tüten in die Kabine. "Ist alles für die Benders", sagte er. Die Zwillinge sind am Sonntag 19 Jahre alt geworden und wurden von ihren Mitspielern offenbar üppig beschenkt. Eine kleine Schokoladentorte war zu erahnen, und auch sonst befanden sich überwiegend Leckereien in den Tüten. Ein Rasierapparat war jedenfalls nicht dabei.
Uli Kellner (Münchner Merkur)